Zur ärztlichen Aufklärungspflicht hinsichtlich Behandlungsalternativen

BGH, Urteil vom 21.11.1995 – VI ZR 329/94

Die ärztliche Aufklärungspflicht setzt in Fällen zur Verfügung stehender Behandlungsalternativen nicht voraus, daß die wissenschaftliche Diskussion über bestimmte Risiken einer Behandlung bereits abgeschlossen ist und zu allgemein akzeptierten Ergebnissen geführt hat. Es genügt vielmehr, daß ernsthafte Stimmen in der medizinischen Wissenschaft auf bestimmte, mit einer Behandlung verbundene Gefahren hinweisen.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 14. Juli 1994 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung des Klägers in Bezug auf den Beklagten zu 2) zurückgewiesen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand
1
Der Kläger zog sich am 26. Januar 1991 bei Waldarbeiten eine Nagelkranzfraktur der rechten Großzehe zu. Im Klinikum der früheren Mitbeklagten, der Stadt P., wurde ihm auf Anordnung des Beklagten zu 2) (im folgenden: der Beklagte) deshalb ein Unterschenkelgehgips angelegt. Dabei wurde ihm ein Merkblatt ausgehändigt, welches Verhaltensregeln bei Komplikationen mit dem Gipsverband enthielt sowie auf die Gefahr von Blutumlaufstörungen hinwies. Wegen in der Folgezeit auftretender Druckschmerzen stellte sich der Kläger vorzeitig am 6. Februar 1991 wieder in der chirurgischen Ambulanz vor. Nach Gipsabnahme zeigten sich im Bereich der Ferse kleinere Druckstellen. Deshalb wurde kein neuer Gips mehr angelegt. Dem Kläger wurden vielmehr zur Entlastung des rechten Beines Unterarmgehstützen mitgegeben. Zu dem sodann vereinbarten Termin am 20. Februar 1991 erschien der Kläger erneut in der Ambulanz und klagte über starke Wadenschmerzen. Bei der Untersuchung wurde eine Becken-Bein-Venenthrombose rechts diagnostiziert, die anschließend bis 12. März 1991 stationär behandelt wurde. Da die Thrombose bereits mehrere Tage alt war, konnte sie weder operativ noch medikamentös geheilt werden.

2
Der Kläger hat gegen den Beklagten sowie die früher mitbeklagte Stadt P. Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter Behandlung sowie wegen unzureichender Aufklärung geltend gemacht. Beide Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seine Klageansprüche gegen den beklagten Arzt weiter. Seine gegen die mitbeklagte Stadt P. eingelegte Revision hat er zurückgenommen.

Entscheidungsgründe
I.

3
Das Berufungsgericht hat einen Behandlungsfehler nicht für nachgewiesen erachtet. Es hat das Anlegen eines Gipsverbandes in der Situation des Klägers als vertretbar angesehen und einen Behandlungsfehler auch nicht darin gesehen, daß bei der Gipsruhigstellung keine medikamentöse Thromboseprophylaxe vorgenommen worden sei. Eine solche Prophylaxe durch Vergabe von Heparin im ambulanten Bereich sei damals zwar schon in der Diskussion gewesen, habe aber noch nicht zum ärztlichen Standard gehört. Erst im Januar 1992 sei eine wissenschaftliche Studie erschienen, die auch für den ambulanten Bereich die Notwendigkeit einer Heparinprophylaxe bei Patienten mit Gipsruhigstellung zweifelsfrei ergeben habe.

4
Auch eine Verletzung der Aufklärungspflicht hält das Berufungsgericht nicht für gegeben. Mit dem Kläger sei über die Möglichkeit der Verwendung von Krücken gesprochen worden. Dieser habe jedoch einen Unterschenkelgips gewollt, weil er mit Krücken nicht so mobil sei. Damit sei der Kläger über eine mögliche Behandlungsalternative aufgeklärt worden. Eines besonderen Hinweises auf das Thromboserisiko habe es im damaligen Zeitpunkt nicht bedurft, da im Zeitpunkt der Behandlung im Januar 1991 die Gefährdung bezüglich einer Thrombose durch Immobilisierung auch bei ambulanter Behandlung und damit zugleich die Notwendigkeit einer Prophylaxe in dieser Situation lediglich in Diskussion gewesen, keinesfalls aber Standard gewesen sei. Im übrigen sei der Kläger durch den Inhalt des übergebenen Merkblattes deutlich auf die Gefahr von Blutumlaufstörungen hingewiesen worden.

II.

5
Diese Ausführungen halten der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.

6
1. Ohne Rechtsverstoß hat das Berufungsgericht in der Anlegung eines Unterschenkelgehgipses ohne gleichzeitige Heparinprophylaxe im damaligen Zeitpunkt (Januar 1991) keinen Behandlungsfehler gesehen. Das wird von der Revision nicht angegriffen und bedarf daher keiner weiteren Darlegung.

7
2. Zu Recht rügt die Revision dagegen, daß das Berufungsgericht eine Aufklärung des Klägers über das Thromboserisiko nicht für notwendig gehalten hat.

8
Nach der Rechtsprechung des Senats muß der Arzt den Patienten über die spezifischen Risiken einer Behandlung aufklären, wenn sie im Falle einer Verwirklichung die Lebensführung schwer belasten. Zu solchen Gefahren gehört auch diejenige einer tiefen Beinvenenthrombose. Davon geht offensichtlich auch das Berufungsgericht aus. Es meint jedoch, hier habe es im Zeitpunkt der Behandlung noch keiner Aufklärung bedurft, weil “die Gefährdung bezüglich einer Thrombose durch Immobilisation bei ambulanter Behandlung und damit die Prophylaxe in dieser Situation zwar in Diskussion, aber keineswegs Standard” gewesen sei; über eine Maßnahme, die nicht zum ärztlichen Standard gehöre, brauche der Patient nicht aufgeklärt zu werden. Diese Auffassung greift die Revision mit Recht als rechtsfehlerhaft an.

9
Die Annahme des Berufungsgerichts ist bereits im Ansatz verfehlt. Das Berufungsgericht stellt der Sache nach darauf ab, daß die Anwendung einer Thromboseprophylaxe damals noch nicht zum medizinischen Standard gehört habe. Um die Erforderlichkeit einer Prophylaxe zur Abwendung des Thromboserisikos geht es aber bei der Aufklärungspflicht nicht, auch nicht darum, ob eine solche Maßnahme damals schon zum medizinischen Standard gehörte oder nicht. Bei der Frage nach der Notwendigkeit einer Aufklärung über das Thromboserisiko geht es allein darum, ob die Gefahr einer Thromboseentstehung bei der Verordnung eines Gehgipses im ambulanten Bereich wie hier in ärztlichen Kreisen damals hinreichend bekannt war.

10
Wie der Senat in seinem Urteil vom 12. Dezember 1989 entschieden hat, setzt die ärztliche Aufklärungspflicht voraus, daß das jeweilige Risiko, um das es geht, nach dem medizinischen Erfahrungsstand im Zeitpunkt der Behandlung bekannt ist (VI ZR 83/89VersR 1990, 522, 523). Jedenfalls in Fällen, in denen wie hier Behandlungsalternativen wie die Verordnung von Gehstützen oder eines besonderen Schuhs zur Verfügung standen, ist dazu aber nicht erforderlich, daß die wissenschaftliche Diskussion über bestimmte Risiken einer Behandlung bereits abgeschlossen ist und zu allgemein akzeptierten Ergebnissen geführt hat. Dann genügt vielmehr, daß ernsthafte Stimmen in der medizinischen Wissenschaft auf bestimmte, mit einer Behandlung verbundene Gefahren hinweisen, die nicht lediglich als unbeachtliche Außenseitermeinungen abgetan werden können, sondern als gewichtige Warnungen angesehen werden müssen (Senatsurteil vom 27. September 1977 – VI ZR 162/76VersR 1978, 41, 42). So würde auch im Streitfall eine in der medizinischen Wissenschaft in Gang befindliche Diskussion über die Thrombosegefahr und die Möglichkeiten ihrer Begegnung durch medikamentöse Prophylaxe im ambulanten Bereich bereits ausreichen, um die Aufklärungspflicht auszulösen. Denn in solchen Fällen gebietet es das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, diesem die mit der gewählten Behandlungsmethode möglicherweise verbundenen Gefahren mitzuteilen und ihn gleichzeitig darauf hinzuweisen, daß solche Gefahren bei den zur Verfügung stehenden anderen Behandlungsmethoden vermieden oder gemindert werden können.

11
Darüber, ob und in welchem Maße die Thrombosegefahr im ambulanten Bereich in Arztkreisen bekannt war, so daß auch der Beklagte davon hätte Kenntnis haben müssen, enthält das Berufungsurteil keine Feststellungen. Es erwähnt lediglich, daß es über die Notwendigkeit einer ambulanten Thromboseprophylaxe in den Jahren 1990 und 1991 “heftige Diskussionen” gegeben habe. Allein dieser Hinweis erlaubt keine abschließende Beurteilung, ob die wissenschaftliche Diskussion auf einer solchen Ebene stattgefunden hat, daß sie auch dem Beklagten hätte bekannt sein müssen. Insbesondere ergibt sich daraus nicht in ausreichendem Maße, wie und mit welchem Gewicht die Thrombosegefahr beurteilt wurde.

12
Darauf, daß das Thromboserisiko bekannt war, und zwar auch dem Beklagten, deutet allerdings das dem Kläger ausgehändigte Merkblatt hin, in dem auf die Gefahr von Blutumlaufstörungen, womit ersichtlich auch die Thrombosegefahr gemeint war, hingewiesen wird. Andererseits war das Berufungsgericht nicht schon allein wegen der Aushändigung dieses Merkblattes der Aufklärung enthoben, denn es stellt nicht fest, daß dieses Merkblatt dem Kläger schon vor Anlegung des Gipses ausgehändigt wurde. Nach dem vom Berufungsgericht referierten unstreitigen Vortrag der Parteien wurde das Merkblatt dem Kläger bei Anlegung des Gipses ausgehändigt, was darauf hindeutet, daß dies erst nach der Anordnung durch den Beklagten geschah. Schon deswegen ist mit der Aushändigung des Merkblattes keine ordnungsgemäße Aufklärung verbunden, die dem Kläger die Entscheidungsfreiheit über eine der in Betracht kommenden Behandlungsmöglichkeiten gelassen hätte.

III.

13
Nach alledem muß das angefochtene Urteil, soweit es den Beklagten betrifft, aufgehoben werden, damit das Berufungsgericht die notwendigen Feststellungen darüber treffen kann, ob und in welchem Maße das Thromboserisiko zur Zeit der Behandlung ernsthaft und für den Beklagten erkennbar in der Diskussion war.

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